Musik und Gesang – pädagogische Wundermittel?

Michael Schnabel
Mschnabel
 

 

 

Kennen Sie das Märchen vom König, der durch Musik wieder fröhlich wurde?

Es ist mehr ein Lied als ein Märchen: der Königsjodler. Das Lied erzählt, dass der König in den Bergen beim Jagen voller Sorgen und Probleme die schöne Natur nicht mehr wahrnehmen konnte. Er war so in seinen Sorgen, in seinem Kummer und seinem Schmerz vergraben, so dass er wie taub und blind herumtappte. Doch plötzlich hörte er von Ferne einen Jodler und all sein Kummer, sein Leid und sein Ärger waren wie weggeblasen.

Solche oder ähnliche Erfahrungen hat jeder schon gemacht: Musik und Gesang vertreiben Traurigkeit, lösen Angst und Beklemmung, erwecken Freude und Begeisterung. Mehr noch: Musik und Gesang haben therapeutische und heilende Wirkungen! Beispielsweise mildert Musikhören beim Zahnarzt die Schmerzen und sogar Menschen im Koma sind durch ihre Lieblingsmelodie dem Trauma schon entrissen worden.

Die vielfachen Wirkweisen von Musik bei Kindern

Schon das Baby im Mutterleib spürt die Musik. Wenn die angehende Mutter sich bei angenehmer Musik entspannt, so erlebt auch das Baby im Bauch diese Wohlgefühle. Der Embryo hört das gleichmäßige Pochen des Herzens seiner Mutter. Und später ist es genau dieser Ton und Rhythmus, der beim Kind Ruhe, Entspannung und Trost erreichen kann.

Schreit das Baby, dann kann es ein Lied beruhigen. Sind Kinder lustlos und verärgert, die richtige Musik muntert sie auf. Lähmt Traurigkeit Kinder und Erwachsene, Musik erreicht einen Stimmungsumschwung. Liegen Streit und Konflikte in der Luft, Musik trägt zur Besänftigung bei. Musik ist in der Lage bei Kindern Blockaden abzubauen, Lustlosigkeit zu vertreiben und Lernleistungen zu steigern (1).

Forschungen zum Superlearning machten deutlich: Musik steigert in sehr hohem Maße die Lernleistungen von Kindern und Erwachsenen. Dabei zeigt sich folgende Gesetzmäßigkeit: Harmonische Melodien beflügeln, Disharmonien blockieren eher. Wer schnell und effektiv seine Englisch- oder Lateinvokabeln beherrschen will, der soll mit Barockmusik im Hintergrund memorieren. Rock- und Beatmusik stören dabei und blockieren das Behalten des Lernstoffs.

Erweitert wurden die Forschungen über die positiven Wirkungen von Musik durch die Therapeutin Stephanie Merritt (2). Sie hat in vielen Seminaren und Experimenten erforscht, was Musik zu leisten vermag und wie Kinder und Erwachsene durch Musik beeinflusst werden können. Geradezu rezeptartig können bestimmte Musikstücke Probleme bewältigen helfen und Entwicklungen fördern. Hier die Empfehlungen von Stephanie Merritt. Danach sollen folgende Musikstücke für Kinder im Mutterleib und im Babyalter äußerst positiv wirken: J.S. Bach: Flötensonaten; Beethoven: Klavierkonzert Nr. 5 (zweiter Satz); Brahms: Wiegenlied; Humperdinck: Abendsegen aus Hänsel und Gretel; Mozart: Konzert für Flöte und Harfe, C-Dur, KV 299 und Violinkonzert Nr. 5, A-Dur, KV 219; Vivaldi: Die vier Jahreszeiten, Flötenkonzerte, Violinkonzerte.

Nach den Beobachtungen von S. Merritt zeigen bei hyperaktiven und verhaltensauffälligen Kindern folgende Melodien beruhigende Wirkungen: J.S. Bach: Air aus der Suite Nr. 3; D-Dur; Arioso aus der Kantate Nr. 156, Brandenburgische Konzerte; Brahms: Violinkonzert op. 77, D-Dur (zweiter Satz); Wiegenlied: Händel: Wassermusik; Haydn: Cellokonzert in C-Dur (zweiter Satz); Mendelssohn: Auf den Flügeln des Gesangs op. 34 Nr. 2; Mozart: Konzert für Flöte und Harfe, KV 299; Pachelbel: Canon in D-Dur; Vivaldi: Die vier Jahreszeiten.

Die Therapeutin S. Merritt gibt noch folgenden praktischen Hinweis für eine erfolgversprechende Aneinanderreihung der genannten Kompositionen: “Sie beginnen am besten mit Die vier Jahreszeiten oder den Brandenburgischen Konzerten, um dem hohen Energieniveau zu entsprechen und den Kindern zu helfen, sich zu konzentrieren und wechseln dann zu einem langsameren, ruhigeren Musikstück.”

Wenn Kinder unter Repressionen leiden, so können nach den Forschungen von S. Merritt folgende Musikstücke Erleichterung, Aufheiterung und Optimismus wachrufen: Gregorianische Choräle; Beethoven: Sinfonie Nr. 6, Die Pastorale; Brahms: Klavierkonzert Nr. 1 op. 15 und Nr. 2 op. 83; Copland: Appalachian Spring; Dukas: Der Zauberlehrling; Händel: Feuerwerksmusik; Haydn: Streichquartette; Leopold Mozart: Kindersinfonie; Mozart: Klavierkonzerte Nr. 21 und 23, Die Zauberflöte; Prokofieff: Peter und der Wolf; Wagner: Der Ritt der Walküren.

Die heilende Wirkung von Musik und Gesang wurde auch unter medizinischen Gesichtpunkten untersucht: Beispielsweise gibt es in der ayurvedischen Medizin Kompositionen, die bestimmte Krankheiten und Beschwerden lindern können (3). Die Erfahrungen aus der ayurvedischen Medizin zeigen darüberhinaus, dass ausgewählte Musiken auch dann noch auf die Kinder beruhigend wirken, wenn sie vorher in den Räumen erklungen sind, in denen sich die Kinder aufhalten werden. So können Eltern die Wirkungen dieser Musik nutzen, auch wenn die Kinder nicht der ayurvedischen Musik zugeneigt sind.

Musik ist keine Pille und kein Penicillinsaft! Die genannten Wirkungen treten sanft und erst auf längere Sicht beobachtbar auf. Auch ist die Wirkweise nicht so wie bei einer Medizin, dass immer eine genau definierte Wirkung erreicht werde. Eher gibt es eine große Bandbreite von Reaktionen auf einzelne Musikstücke. Daher verspricht ein Probieren verschiedener Musikformen und ein genaues Beobachten der Kinder Erfolgssteigerungen.

Potenzierung der heilenden Wirkungen

Beruhigung, Entspannung, neue Energien und Motivation werden bei Kindern bereits verbessert, wenn sie bestimmte Musikstücke hören. Die beachtlichen Wirkungen können noch ausgeweitet und intensiviert werden durch wohlüberlegte Gestaltung des Musikerlebnisses: beispielsweise durch Ritualisierung des Musik- und Gesangerlebens.

Was ist unter einem Musik- und Gesangsritual zu verstehen? Wie können derartige Rituale zelebriert werden?

Rituale sind gestaltete Situationen. Sie haben einen festgelegten Ablauf, sind meist an bestimmte Zeiten, Orte und Ereignisse gebunden. Der regelhafte Ablauf, die festgelegte Form und die wiederkehrende Situation können eine Dichte und Tiefe des Erlebens bewirken. Jeder kennt solche Situationen: das Gute-Nacht-Lied oder das Geburtstagslied mit Hochheben des Kindes sind Beispiele.
Umfänglichere Rituale sind der Martinsumzug, eine Nikolaus- oder Weihnachtsfeier.

Hier noch weitere Beispiele und Anregungen für Gesangs- und Musikrituale:

  • Stephanie Merritt gibt folgende Hinweise: Bevor Kinder in der Schule klassische Musik hören, sollten sie sich entspannen. Einige Atemübungen können die Kinder gut vorbereiten. Dann sollten sie den Kopf auf den Tisch legen und die Musik auf sich einwirken lassen.

  • Ein weihnachtliches Gesangs- und Musikritual ist die sogenannte Sitzweil. Erwachsene und Kinder sitzen um den Adventskranz. Es werden Geschichten vorgelesen und weihnachtliche Lieder gesunden.

  • Ein ähnliches Ritual ist das Kerzensingen, das öfter in Familienfreizeiten durchgeführt wird. Dafür stellen Eltern und Kinder in einer Bastelaktion Kerzen her. Eine unkomplizierte Methode ist das Rollen von Kerzen aus Bienenwaben. Abends vor dem Schlafengehen werden die Kerzen angezündet und Kinder und Eltern singen die Wunschlieder der Kinder.

  • Kinder sind immer tief beeindruckt von einer Waldweihnacht. In der Dämmerung gehen Eltern und Kinder in den Wald. Dort wird ein Fichten- oder Tannenbäumchen mit Kerzen geschmückt. Wenn die Kerzen brennen werden Geschichten erzählt und Lieder gesungen.

  • Die meisten – seien es Kinder oder Erwachsene – sind emotional ergriffen, wenn sie am Lagerfeuer sitzen und Lieder vom Wandern, von der Sehnsucht oder von Schönheit der Heimat singen.

Diese Beispiele und Überlegungen machen deutlich: Musik ist kein Allheilmittel und Musik ist kein Wundermittel, aber durch Musik wird der Alltag festlicher und eindrucksvoller. Musik kann Stimmungen erzeugen und das Zusammenleben in der Familie bereichern. Musik ist in der Lage, gedeihliche Bedingungen für ein harmonisches Miteinander zu schaffen. Durch den festlichen Charakter stärkt sie Bindungen und macht Zusammengehörigkeit und gemeinsames Erleben deutlich.

Musik ein Erziehungsmittel?

Darf Musik und Gesang für pädagogische Absichten verzweckt werden? Soll man Musik in den Alltag herunterziehen? Wird die Zauberkraft der Melodien mit solcher Praxis verdorben?

Musik und Gesang in ein Ritual eingebunden bringt ihre Kraft besonders zum Leuchten. Und die Rituale sind es, die große und kleine Probleme mit Kindern leichter passierbar machen. Bewährte Beispiele und beobachtete Fälle geben Anregungen dafür, das eine oder andere selbst zu versuchen.

Singen beim Warten

Im Kindergarten drängen sich ca. zwanzig Kinder an der Eingangstür und warten auf den Bus, der sie abholen sollte. Scheinbar gab es eine Verzögerung, weil sich das Warten immer länger hinzieht. Die Kinder werden unruhig schieben und stoßen, drängen sich gegenseitig zur Tür. Ich bin äußerst neugierig, wie die Erzieherin die Gruppe beruhigen werde. Sie mahnt nicht und gibt keine Anweisungen, sondern schlägt vor, einige Lieder zu singen. Da wurde aus der quengeligen Kindergruppe ein harmonischer Kinderchor.

Musik und Gesang auf der Autofahrt

Wer kann nicht ein Lied davon singen von den qualvollen Autorfahrten mit Kindern? Endlich geht es in den Urlaub und alle freuen sich auf Sonne, Strand und Meer. Auf den ersten hundert Kilometern interessiert die Kinder noch alles, was rund um die Autobahn zu sehen ist. Doch zunehmend greift Langeweile um sich: “Wann sind wir am Meer? Kommt schon bald das Hotel? Wann dürfen wir aussteigen? Wo bleibt die nächste Raststelle?” Sind quälende Fragen der Kinder. Auch Pausen in immer kürzeren Abständen bringen kaum noch Entlastung. Versuchen Sie es mit Musik und Gesang! Bei größeren Kindern können Eltern ein Musik- Quiz vorschlagen. Es werden Schlager, Popp- oder Jazzstücke vorgespielt. Wer kennt das Stück? Wer weiß, wer singt? Wer hat das Stück geschrieben? Mit Lieblingssängern von Jugendlichen lassen sich damit einige Stunden überbrücken.

Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter lassen sich durch Singen begeistern und die Zeit vergeht im Fluge. Ein Wunschkonzert mit Kinderliedern ist ein guter Einstieg. Kinder und Erwachsene schlagen abwechselnd vor, welche Lieder gesungen werden sollten. Noch gesteigert kann das Gesangserlebnis mit erfundenen und veränderten Liedern werden. Erste Experimente können mit sehr einfachen Kinderliedern versucht werden; zum Beispiel: Alle meine Entchen … Ein Männlein steht im Walde … Dort droben auf´n Bergerl … Auf der Mauer auf der Lauer sitzt eine kleine Wanzen … Zu den bekannten Strophen werden aus dem Stehgreif einfache neue Texte gedichtet.

Eine weitere Steigerung wird erreicht, wenn ein Textteil und auch die Melodie verändert werden. Ein leichter Anfang ist folgende Zeile: Heut ist ein Tag, an dem ich singen mag. Ist das nicht ein Tag, an dem ich singen mag? Ja, das ist ein Tag, an dem ich singen mag….

Leicht lassen sich neue Texte und neue Melodien zu diesen Zeilen erfinden: beispielsweise: Heut ist ein Tag, an dem ich reisen mag … Heut ist ein Tag, an dem ich rasten mag … Heut ist ein Tag, an dem ich staunen mag…

Musik und Gesang bei Schmerzen und Krankheit

Musik und Gesang können Kinder in hohem Maße beruhigen. Ein bemerkenswertes Beispiel steht dafür: Bei einer Familienfreizeit klemmt sich ein zehnjähriges Kind die Finger am großen Eingangstor so ein, dass die Fingernägel nur noch herunterhängen. Voller Schmerz weint und schreit das Kind. Ich bringe das Mädchen mit seiner Mutter ins Klinikum. Während der zwanzigminütigen Fahrt singt die Mutter ein Lied nach dem anderen vor. Und welch ein Erstaunen: Am Ende der Fahrt weint das Kind nicht mehr, sondern summt teilweise bei den Liedern mit.

Ähnliche Erfahrungen konnten sicherlich schon die meisten Mütter und Väter machen, dass Kinder das Kranksein nicht mehr so beschwerlich erleben, wenn ihnen Lieder vorgespielt oder vorgesungen werden.

Das Gute-Nacht-Lied

Viele Kinder im Kleinkindalter tun sich schwer, den Tag harmonisch abzuschließen. Sie erfinden immer wieder Ausreden, um noch eine kurze Zeit bei den Eltern bleiben zu dürfen. Andererseits wollen die Eltern gerade abends einige Stunden noch für sich allein sein. Ein Einschlafritual kann helfen, diesen Übergang von den Aufregungen des Tages zur Ruhe der Nacht zu erleichtern. Ein Gute-Nacht-Lied oder auch mehrere Lieder sollten zentrale Elemente eines Einschlafrituals sein. Lieder erzeugen eine ruhige und harmonische Stimmung, dadurch ist es für das Kind leichter einzuschlafen. Weiterhin ist ein Einschlafritual mit Liedern ein deutliches und eindrucksvolles Signal dafür, dass die Aufregungen des Tages abgeschlossen sind. Und das gemeinsame Singen der Eltern und Kinder erfüllt den Raum mit einer festlichen und feierlichen Stimmung, die Geborgenheit und Vertrauen wecken und vertiefen kann. Wichtige Grundvoraussetzungen für ein friedliches Einschlafen!

Resümee

Musik und Gesang haben zu allen Zeiten das Leben der Menschen bereichert. Feste und Feierlichkeiten sind ohne musikalische Darbietungen unvorstellbar. Musik und Gesang erzeugen Festtagsstimmung und lassen Feierlichkeit aufleben.

Fröhlichkeit und Feierstimmung klingen im Kind bereits schon vor der Geburt an, wenn die Mutter Musik und Gesang auf sich wirken lässt. Musik und Gesang können Kinder beruhigen, trösten, aufmuntern und motivieren. Sie erhöhen die Lernleistungen und helfen Probleme anzugehen. Eltern können sich diese Vorzüge zu Nutze machen und Musik und Gesang in schwierigen Erziehungspassagen einsetzen. Die aufgezeigten Wirkungen werden intensiviert, wenn Musik- und Gesangsrituale das Familienleben feierlich durchdringen. Eine erfahrungsmäßige Vertiefung des Familienlebens, die jede Gemeinschaft festigen kann.

Quellen

(1) Tomatis, A.: Das Ohr – die Pforte zum Schulerfolg, Dortmund 1998.

(8) Merritt, S.: Die heilende Kraft der klassischen Musik. Eine Entdeckungsreise zu mehr Kreativität und Lebensenergie, München 1998.

(3) Schrott, E.: Die heilenden Klänge des Ayurveda, Heidelberg 2001.

Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch

Autor

Michael Schnabel war wissenschaftlicher Angestellter am
Staatsinstitut für Frühpädagogik

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Erstellt am 7. Juni 2005, zuletzt geändert am 13. Juni 2012