Mit Kleinkindern philosophieren

Michael Schnabel
Mschnabel

 

 

 

Die Faszination an den Ideen der Kinder

“Denken ist manchmal falsch, aber Wissen ist immer richtig… Wenn es den Namen Gott gibt, so muss es einen Gott geben… Wenn alles ein Traum wäre, dann würden die Menschen nicht fragen, ob alles ein Traum wäre… Wo geht das Bauchweh hin, wenn ich keine Schmerzen mehr habe?” (Matthews, G.; 1991).

Gedankensplitter aus einem philosophischen Kolleg an der Uni? Nein, weit gefehlt, Gesprächsbeiträge von Kindergartenkindern!

Der englische Philosoph Gareth Matthews war von seinen Studenten in den philosophischen Kolloquien enttäuscht, denn sie wiederholten nur, was sie sich einmal angelesen hatten und waren nicht im Stande, ureigene Gedanken zu grundlegenden Fragen des Lebens hervorzubringen.

Da kam Matthews die Idee: Kleine Kinder sind durch philosophischen Unterricht noch nicht verdorben und somit für spontane Ideen offen. Er ging deshalb zu Kindern in den Kindergarten und in die Schule. Dort konnte er geistreiche Gespräche führen. Er behauptet sogar, nicht einmal die ganze philosophische Tradition sei auf derartige Einfälle gekommen wie die Kleinkinder (Matthews, G.; 1989).

An den unverfälschten Vorstellungen, den kraftvollen Bildern und Vergleichen, sowie den originären Ideen der Kinder fanden einzelne Philosophen/innen und Interessierte der Kinderphilosophie Gefallen und haben in dieser Richtung weitergearbeitet (Brüning, B.; 1991).

Diese Auseinandersetzung mit kinderphilosophischen Fragen hat sich als eigenständiger und ernsthafter Forschungsbereich an einigen Universitäten etabliert.

Warum mit Kindern philosophieren?

Philosophieren mit Kindern ist spannend, reizvoll und äußerst lehrreich für Kinder und Erwachsene. Ohne Zweifel: Für alle kann es eine faszinierende Angelegenheit werden.

Die Erwachsenen lernen in den philosophischen Diskussionen mit Kindern, wie sie auf Kinder eingehen müssen, um eine offene und ungezwungene Auseinandersetzung zu erreichen. Es bedarf schon einiger methodischer und didaktischer Raffinesse, mehr aber noch eines besonderen geistigen und zwischenmenschlichen Klimas, um Kleinkinder anzuregen, über Frieden, Glück, Gerechtigkeit, Wissen, Zeit, Ethik, Leben und Tod nachzudenken (Matthews, G. 1989).

Wie die Aufzeichnungen belegen, kommen von den Kindern zu solchen menschlichen Grundfragen doch recht eigenwillige Ideen, neuartige Bilder und ausgefallene Vorstellungen.

Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter konnten dafür gewonnen werden, in einer kleinen überschaubaren Runde von fünf bis sieben Kindern, sich zu menschlichen Grundfragen zu äußern. Natürlich gibt es auch Jugendliche, die sich an den philosophischen Gesprächskreisen beteiligen.

Was lernen die Kinder dabei?

Kinderphilosophen/innen verfolgen unterschiedliche Ziele. Wie in jeder Philosophie steht auch beim Philosophieren mit Kindern am Anfang das Staunen und Fragen. Durch die philosophischen Gespräche könne bei Kindern das ungestüme Fragen und Staunen wach gehalten werden (Martens, E.; 1990). Mehr noch: Staunen und Fragen als prüfende Grundhaltung wird für das gesamte Leben eingepflanzt.

Philosophieren verlangt aber darüber hinaus ein kritisches Prüfen der Begriffe. Aus oft unüberlegten “Windeiern” sollten durch kritische Reflexion “harte Eier” werden (Matthews, G.; 1989). Demnach lässt Philosophieren die Kinder erkennen, Begriffe sollten möglichst genau und eindeutig sein. Nicht nur Begriffe werden unter die Lupe genommen, vielmehr lernen Kinder durch die Philosophiererei jegliches Angebot, jegliches Versprechen, jegliche Heilslehre gründlich anzuschauen.

Und schließlich gilt es die Argumente und Gedankengänge in unseren Debatten auf ihre Stichhaltigkeit zu untersuchen. In philosophischen Gesprächen lernen die Kinder, welche Begründungen sich einer Sache annähern oder ihr entsprechen (Brüning, B.; 1990). Ja, insgesamt werden die Kinder durch die philosophischen Auseinandersetzungen selbstbewusster, kritischer, eigenständig im Denken und Handeln. Und es kommt noch besser: Mehrere Pädagogen sehen darin eine Stärkung der Kinder im Hinblick auf die Gefährdungen durch Süchte.

Natürlich werden nicht alle diese Ziele mit Kleinkindern verwirklicht. Steht im Kindergartenalter mehr das Fragen und Staunen im Vordergrund, so dürfte Jugendliche mehr das Argumentieren interessieren.

Fraglich bleibt bei diesen Anforderungen jedoch: Zeigt das Philosophieren mit Kindern, dass in jedem Kind ein kleiner Philosoph steckt, oder handelt es sich um rationale Spielchen zwischen Kindern und Spezialisten, die nur deutlich machen, wie gut sich Kinder in bestimmten Themen ausdrücken können und wo ihr Ausdrucksvermögen begrenzt ist?

Eines dürfte dabei klar sein: Philosophische Gespräche mit Kindern fördern deren Denkvermögen, entwickeln ihr Ausdrucksvermögen und lassen Fähigkeiten entstehen, Probleme und Fragen aus verschiedenen Gesichtspunkten zu beurteilen. In den Kindern kann damit die Begeisterung geweckt werden, grundlegende Fragen des Lebens und der Welt zu durchdenken.

Und ganz sicher stehen Kinder, die viele Dinge und Vorstellungen einer gedanklichen Prüfung unterzogen haben, den Realitäten und Scheinwelten mit kritischer Distanz gegenüber.

Praktische Anregungen zum Einstieg ins philosophische Kolleg mit Kindern

Ist philosophieren mit Kindern – ein modischer Trend? Ja, vielleicht dem Begriff nach – aber der Sache nach haben schon immer Eltern mit ihren Kindern niederschwellig philosophiert; beispielsweise, wenn längere Diskussionen die Größe des Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenks klären sollten. Schnell landet man bei Fragen des Glücks, der Zufriedenheit, den Wünschen und Bedürfnissen der Kinder. Alles Themen, die auch ein Philosoph im Programm hat. In den Familien gibt es Anlässe zuhauf, die zu philosophischen Diskussionen führen können. Folgende Vorbedingungen sind ein gedeihlicher Boden für das Philosophieren mit Kindern.

  • Zeit und Muße: Philosophieren ist eine kreative und künstlerische Tätigkeit. Sie kann nicht so nebenher erfolgen, sondern braucht Zeit, Ruhe und Muße. Wenn am Wochenende Eltern und Kinder gemütlich beim Tee zusammensitzen; oder wenn eine Geschichte vorgelesen wurde, können sich philosophische Debatten gut breit machen.
  • Geschichten erfinden: Eltern können auch – wie es einige Kinderphilosophen gemacht haben – Geschichten erfinden, die zu den großen Themen der Menschen hinführen. In einer Geschichte wird ein Problem angeschnitten und die Kinder können die Erzählung weiterspinnen. Beispiel altes Schiff: Im Hafen wird ein altes Schiff zerlegt. Es werden Brett für Bett, Balken für Balken abgebaut. Wann ist es noch ein Schiff und wann ist es nur noch ein Holzhaufen?
  • Provozierende Fragen und Geschichten: Gemütliche Runde beim Kerzenschein: Wenn ich jetzt die Kerze ausblase, wo ist dann das Feuer geblieben? Wohin flüchtet das Feuer vor dem Wind? Oder: Muss ein Feuerwehrmann die Schuhe abputzen, wenn er in ein brennendes Haus geht? Ein moralisches Dilemma nach Kohlberg: Darf ein Vater in der Apotheke ein Medikament stehlen, wenn er damit seine Frau vor dem Tod retten kann und selbst nicht das nötige Geld hat, es zu kaufen?
  • Blödeleien sind Kreativplätze! Ein lockeres und ungezwungenes philosophisches Geplänkel reizt vor allem Kindergartenkinder herumzublödeln und sich in abstruse Übertreibungen hineinzusteigern. Vergessen Sie den Betrieb eines philosophischen Seminars! Gerade die schrankenlosen Freiheiten im Denken und das lockere und sogar tabulose Sprechen der Kinder über alles und jeden ist der Sitz radikaler Philosophie.
  • Bilder beisteuern! Kinder in einer Kleingruppe, oder auch Geschwister untereinander gleiten manchmal von selbst in einen philosophischen Diskurs. Beispielsweise können auf einer längeren Autofahrt plötzlich große Fragen die Diskussion bewegen ( “Gibt es in den Alpen einen so großen Berg, dass ihn der liebe Gott nicht heben kann?” ). Wenn dann die Eltern selbst ausgefallene Bilder beisteuern, wird die Motivation zu einer längeren Auseinandersetzung ausgebaut.
  • Vergewisserung in der philosophischen Klassik! Die Faszination der Philosophiererei mit ihren Kindern kann bei den Eltern noch ausgebaut werden, wenn man selbst in philosophischen Werken interessante Ausführungen nachliest. Alle Grundfragen des Menschen werden schon bei Platon debattiert. Aber auch Philosophen des Mittelalters, der Neuzeit und der Gegenwart haben höchst eindrucksvolle Überlegungen produziert.

Resümee

Philosophieren mit Kindern gehört für Eltern nicht zu den pädagogischen Pflichtübungen. Aber es kann äußerst reizvoll sein, ausgefallene Gedankengänge und im höchsten Maße packende Bilder der Kinder aufzugreifen und mit ihnen aufzuarbeiten und weiterzuführen. Kinder sind Philosophen von Natur aus und es liegt an den Eltern, eine abenteuerliche Reise ins Land der Philosophie mitzumachen. Sicher ist in jedem Fall: Eltern und Kinder erfahren dadurch eine immense geistige Bereicherung. Die dafür nötigen Vorbedingungen sind die gleichen Bedingungen, wie sie für eine erfolgreiche Erziehung erforderlich sind.
 

Literatur

  • Brüning, B.: Mit dem Kompass durch das Labyrinth der Welt. Wie Kinder wichtigen Lebensfragen auf die Spur kommen. Bad Münder 1990
  • Brüning, B.: Philosophieren mit Kindern, Hamburg 1991/2.
  • Freese, H.-L.: Kinder sind Philosophen – Darstellung der Kinderphilosophie; Weinheim 2002.
  • Martens, E.: Sich im Denken orientieren. Philosophische Anfangsschritte mit Kindern, Hannover 1990.
  • Matthews, G. B.: Denkproben. Philosophische Ideen jüngerer Kinder, Berlin 1991.
  • Matthews, G., B.: Philosophische Gespräche mit Kindern, Berlin 1989.
  • Zoller, Eva: Die Kleinen Philosophen, Zürich 2000/4.
  • Zoller-Morf, E.: Philosophische Reise. Mit Kindern auf der Suche nach Lebensfreude und Sinn, Freiburg 2000.
     

Weiterführende Links

Philosophieren mit Kindern Hamburg e.V.

Philosophische Praxis - Norbert Schikora

Netzwerk für praktisches Philosophieren

Schweizerische Dokumentationsstelle für
Kinder- und Alltagsphilosophie

Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch

Autor

Michael Schnabel war wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik

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Erstellt am 10. Oktober 2003, zuletzt geändert am 13. Juni 2012