Lernen mit allen Sinnen

Elke Leger

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Spielen ist Lernen. Durchs Spielen eignen sich Kinder Fähigkeiten und Fertigkeiten an, die sie für ihr Leben brauchen.

Sarah hat ihren Fuß entdeckt. Wenn sie in ihrem Gitterbettchen liegt oder auf dem Wickeltisch, greift sie nach den strampelnden, zappelnden Zehen, führt sie zum Mund und saugt glücklich daran. Der Fuß ist ihr schönstes Spielzeug, viel schöner noch als das weiche Schmuse-Schaf, das ihr die Mutter in den Arm legt.

Spielen schafft Erfahrungen

Den eigenen Fuß zu packen, fest zu halten und zum Mund zu führen – welch eine Leistung für ein Baby! Denn was für ein größeres Kind und die Erwachsenen längst selbstverständlich ist – ein Baby muss es erst lernen, jeden Tag ein Stück mehr. Und das Baby lernt gern, es kann gar nicht anders. Die Natur schreibt ihm vor, sein Köpfchen zu heben, um sein Gesichtsfeld zu erweitern, den Körper aufzurichten, schließlich einen Fuß vor den anderen zu setzen, um sich fortzubewegen. Es lernt, Dinge vom Boden aufzuheben und in den Mund zu stecken, um deren Beschaffenheit zu erfahren. Es lernt, vertraute von fremden Gesichtern zu unterscheiden, Gegenstände in ein Gefäß zu legen, aus Lauten Wörter zu bilden, den Löffel vom Teller zum Mund zu bringen. Das alles lernt es von ganz allein, zwar angewiesen auf liebevolle Bestätigung und Begleitung der Menschen in seiner Nähe, aber ohne dazu aufgefordert zu werden. Es lernt, indem es neugierig ausprobiert und seine Tätigkeiten ständig wiederholt. Es lernt, indem es mit den Dingen in seiner Umgebung spielt. Über Jahre hinweg, bis ins Schulalter hinein, eignet das Kind sich so auf spielerische Weise all das an, was es können und wissen muss.

Aus Neugier wird Wissen

Eine der eindrucksvollsten Erlebnisse der Ärztin Maria Montessori am Anfang ihrer pädagogischen Arbeit war die Beobachtung eines Mädchens, das mit kleinen Zylindern spielte und dabei eine Tätigkeit immer wiederholte, wohl an die fünfzig Mal, bis die erwünschte Geschicklichkeit erreicht war. Maria Montessori erkannte nach dieser Beobachtung: Kinder eignen sich die Fertigkeiten, die sie brauchen, selbst an. Und sie lernen besonders intensiv, wenn sie sich aus ihrem eigenen Interesse heraus beschäftigen können. In vielen Kindergärten wird diese Erkenntnis umgesetzt: Die Erzieherinnen greifen das auf, das die Kinder gerade brennend interessiert. Hannahs Mutter erwartet ein Baby – und alle wollen wissen, wie das neue Kind jetzt gerade aussieht und ob es ihm gut geht im Bauch der Mutter und ob es da auch essen und trinken kann. Und natürlich: Wie es dort hinein gekommen ist und zur Welt kommen wird. Es gibt kaum ein anderes Thema in den nächsten Tagen, die Puppenecke wird zum Kreißsaal und Wickelplatz, und als Hannah einen Strampler mitbringt, den das neue Geschwisterchen bald tragen wird, staunen die Freunde: So winzig ist ein neugeborenes Kind! Intensiver als durch jedes Bilderbuch, jeden Film, haben die Kinder hier in spielerischer Form Wissen über biologische Zusammenhänge und den Umgang mit einem Baby gesammelt.

Bewegung macht klug

Ohne es zu wissen, haben die Kinder früherer Generationen Spiele erfunden, die sie für ihre gesunde Entwicklung brauchten. Denn solche Spiele trainieren die körperliche Geschicklichkeit und damit auch die Lernfähigkeit; die Geschicklichkeit des Körpers und das Denkvermögen korrespondieren miteinander. Mit einer gestörten Körpermotorik geht oft eine unzureichende Wahrnehmungsfähigkeit einher, und die wiederum macht das kognitive Lernen zum Problem. Bewegung, Denken und Sprachentwicklung hängen zusammen, so unwahrscheinlich das auch klingt. Denn durch bestimmte Bewegungsabläufe werden die beiden Hälften des Gehirns trainiert – Ergotherapeuten machen sich diese Erkenntnis zu nutze, wenn sie mit Kindern arbeiten, deren Koordinations- und Wahrnehmungsfähigkeit eingeschränkt ist. Die beste Vorbereitung fürs schulische Lernen ist also: Bewegung, das Trainieren und Wahrnehmen des Körpers.

Die alten Kinderspiele fördern genau die Bewegungsmuster, die die Kinder für ihre körperliche und intellektuelle Entwicklung brauchen: das Ballspielen mit der Hand, das Gummi- oder Seilhüpfen, das Hinkelkästchen-Hüpfen, das Schaukeln – solche Spiele schulen das Geschick und die Sinne und sind so allerbeste Voraussetzung für Konzentration und Merkfähigkeit.

Den überbehüteten Kindern unserer Zeit wird so manche Chance genommen, sich die Welt spielerisch und in eigener Regie anzueignen. Statt auf einem unbebauten Grundstück im Matsch zu wühlen, sich die Hosen an rostigem Stacheldraht zu zerreißen und mit einem Geruch von feuchter Erde und Zündelholz nach Hause zu kommen, geht es zum Spielen auf eigens angelegte Spielplätze – Kinder-Reservate, wo die Kinder ungefährdet so spielen können, wie es sich die erwachsenen Spielplatz-Planer erdacht haben. Neugier, Abenteuerlust, Risiko und letztlich auch Lernmöglichkeiten bleiben da oft auf der Strecke. Ein guter Spielplatz bietet darum keine Perfektion, keine vorgegebene Spiel-Strategie, sondern lässt Raum für eigenes Entdecken: eine Pumpe vielleicht, mit der die Kinder Kanäle im Sand erbauen können, viel Wildwuchs zum Klettern und Kriechen, Möglichkeiten zum aktiven Tun.

Wie sinnvoll sind Lern-Spiele?

Die Zahl der Kinder, die Probleme mit dem Sprechenlernen haben, wächst stetig. Die Ursachen sind bekannt: zu wenig Kommunikation in der Familie, zu wenig Möglichkeiten für das Trainieren der körperlichen Geschicklichkeit. Doch trotz dieser Erkenntnisse: Der Markt an Lernspielen wächst täglich. Erkennen, benennen, zuordnen sollen schon die Kleinsten mit den absonderlichsten Spiel-Gerätschaften. Und irgendwann hat dann jedes Kind herausbekommen, dass eine Kuh muh macht und ein Schaf bäh. Aber es kennt nur das Bild von Kuh und Schaf – hat es damit ein Stück der Welt kennen gelernt? Das kann es nur, wenn es das Tier leibhaftig sehen, anfassen, riechen, hören kann. Solche Lernspiele sind ein netter Zeitvertreib für Babys, mehr aber auch nicht. Lernen kann das Kind nur, wenn es das Leben kennen lernen darf.

Und die Größeren? Was lernen sie von CD-ROMs, mit denen sie am Computer im Multiple-Choice-Verfahren Dinge benennen, erkennen, zuordnen dürfen? Wenig, wenn sie nicht zuvor die echte, lebendige Welt kennen kernen durften. Spiele am Computer machen Spaß, schenken Erfolgserlebnisse und vertreiben die Zeit auf angenehme Weise. Aber lernen kann ein Kind durch sie etwa so viel oder so wenig wie ein Erwachsener durch das Kreuzworträtsel in der Tageszeitung.

Was aber ist gutes Lernspielzeug?

Jenes, das dem Kind Raum für die Fantasie lässt, möglichst viele Sinne anspricht und mit dem das Kind gern umgeht. Je weniger perfekt ein solches Spielzeug ist, desto besser, denn das Nichtperfekte hält die Neugier wach. In der unmittelbaren Umgebung des Kindes, in seinem Alltag, findet sich genug Lern-Spielzeug, auch wenn es auf den ersten Blick gar nicht erkennbar ist. Ein Kind etwa, das beim Zubereiten des Mittagessens hilft oder kleine Einkäufe erledigen darf, lernt dabei viel: Die Beschaffenheit der verschiedenen Zutaten, das Abmessen und Wiegen, das Zählen… Es muss seine Hände geschickt einsetzen, konzentriert bei der Sache sein. Und, vielleicht das Wichtigste dabei: Es fühlt sich in seinem Tun ernst genommen.

Der wichtigste Lernerfolg kann auf eine knappe Formel gebracht werden: Es macht Spaß, neugierig zu sein.

Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch

Autorin

Elke Leger, Psychologin, Journalistin, Buchautorin, Mutter von zwei Kindern, viele Jahre Redakteurin einer Familienzeitschrift

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Elke Leger
Journalistin – Autorin – Psychologin
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Erstellt am 2. Juli 2003, zuletzt geändert am 6. August 2014