Tagespflege: Wie eine gute Eingewöhnung gelingen kann
Dr. Joachim Bensel
Wenn Kinder mit der Tagespflege nicht zurechtkommen, liegt es meistens an einer schlechten oder fehlenden Eingewöhnung. Je jünger die Kinder sind, desto behutsamer sollte der Übergang in die neue Umgebung gestaltet werden. Im Folgenden wird beschrieben, wie der Start in die Tagespflege für Kinder, Eltern und Tagesmütter gelingen kann.
Aller Anfang ist schwer. Diese Weisheit trifft sicher auch auf den Beginn eines neuen Betreuungsverhältnisses außer Haus zu. Das kleine Kind muss schließlich lernen, Fremdes zu Vertrautem zu machen und Neugier über die eigene Angst siegen zu lassen.
Der enge Bezug zu vertrauten Menschen
Für Kinder sind elterliche Anwesenheitssignale zu Beginn des Lebens (vielleicht sogar schon früher) von Bedeutung. Wie sich die Bezugspersonen anhören, riechen und anfühlen, lernen Säuglinge bereits kurz nach der Geburt. Mit zwei Monaten zeigen Babys physiologisch messbare Stressanzeichen, wenn keine Bezugspersonen mehr in ihrer Nähe sind. Das Kennen lernen geht in den nächsten Lebensmonaten weiter, eine individuelle Beziehung entsteht, der Unterschied zwischen bekannt = vertraut und unbekannt = fremd gewinnt zunehmend an Bedeutung. Seinen Höhepunkt erreicht die Differenzierungsleistung mit etwa acht Monaten, die Zeit des Fremdelns gegenüber Menschen beginnt, die nicht so beschaffen sind wie Mama und Papa, Oma und Geschwister, die man schon häufig erlebt und für vertrauenswürdig befunden hat und deren Verhalten einschätzbar ist.
Das Fremdeln dauert bis zum ca. 30. Lebensmonat noch an. Das heißt, ängstliches Verhalten gegenüber unbekannten Personen ist in dieser Lebensphase am ausgeprägtesten. Nach dem dritten Lebensjahr nehmen Fremdeln und Trennungsangst immer mehr ab. Den Kindern fällt es jetzt leichter, Beziehungen zu fremden Personen aufzunehmen und einige Stunden ohne Mutter auszukommen. Die individuelle Persönlichkeit spielt jedoch für Grad und Dauer des Fremdelns eine große Rolle.
Die Eingewöhnung bei der Tagesmutter
Dieser Entwicklungsverlauf zeigt, dass die Eingewöhnungssituation bei der Tagesmutter für Kleinstkinder unter drei Jahren eine besonders heikle Aufgabe darstellt. Aber auch Kleinkinder im Kindergartenalter können noch sehr unter dem Abschied von daheim leiden, wenn die Eingewöhnung nicht langsam, geduldig und aufmerksam vollzogen wird.
Mit Betreuungsbeginn bei der Tagesmutter ändern sich im schlimmsten anzunehmenden Fall gleich drei Dinge: Die Umgebung und das Inventar sind neu, eine fremde Erwachsene tritt an die Stelle der Bezugsperson und unbekannte Kinder konkurrieren mit einem um Spielzeug und Betreuung. Damit es nicht zur Betreuungskatastrophe kommt, ist ein stufenweises Vorgehen unerlässlich.
Anfangsphase
In der ersten Zeit sollten die Besuche nur in Anwesenheit einer familiären Bezugsperson stattfinden. Das Kind kann das Unbekannte in Anwesenheit der vertrauten Person Stück für Stück kennen lernen und Vertrautes an die Stelle setzen. Es weiß bald, wo das Spielzeug liegt, wo man sich die Hände waschen kann, welche familiären Spielregeln gelten, was man bei Tisch darf und was nicht und so weiter. Und parallel zum wachsenden Wissen verliert es seine anfängliche Scheu. Noch besser, wenn Eltern und Tagesmutter es geschafft haben, ein Zweitzuhause entstehen zu lassen, das Neugier weckt und Spielfreude aufkommen lässt. Dann wird es spannend, die neuen und lustigen Eigenheiten der Tagesfamilie kennen zu lernen. Kann man entspannt genießen, so gibt es immer Dinge, die außer Haus schöner und interessanter sind als zu Hause. An diesem Erfolg ist die Tagesmutter von Anfang an beteiligt: Sie muss das Kind in die Tagesfamilie einführen, den Kontakt zu den anderen Kindern anbahnen und vor allem sich selbst als geeignete Alternative zur familiären Bezugsperson unter Beweis stellen. Das Kind muss sie schrittchenweise immer mehr als jemanden erleben, der da ist, wenn eine Frage auftaucht, es etwas zu lachen gibt, es sich verletzt hat oder traurig ist, Probleme auftauchen, die das Kind nicht alleine bewältigen kann. Die nicht leichte Aufgabe der begleitenden Mutter/des Vaters besteht darin, sich immer mehr aus dem Geschehen zurückzuziehen, bis Tagesmutter und Tageskind ganz gut alleine miteinander klar kommen.
Stabilisierungsphase
Dann beginnt die Stabilisierungsphase mit kurzen Abschnitten elterlicher Abwesenheit, die aber Telefon bei Fuß stehen sollten, um im Krisenfall sofort wieder beim Kind sein zu können. Die Tagesmutter übernimmt zunehmend die Versorgung des Kindes und bietet sich als Spielpartner an. Unter genauer Beachtung der Reaktionen des Kindes vergrößert sich der Zeitraum, in dem das Kind mit der Tagesmutter alleinbleibt. Akzeptiert das Kind die Trennung jedoch nicht und lässt sich von der Tagesmutter nicht beruhigen, sollte mit weiteren Trennungsversuchen gewartet werden.
Schlussphase
In der Schlussphase schließlich sind die Eltern den ganzen Tag nicht mehr präsent, aber noch jederzeit im Notfall erreichbar. Ihre Anwesenheit ist im Idealfall dann nicht mehr nötig, da nun die Tagesmutter ihre Rolle übernommen hat. Die Eingewöhnung ist erst dann abgeschlossen, wenn die Tagesmutter vom Kind als „sichere Basis“ akzeptiert wird und in der Lage ist, das Kind zu trösten. Eine Eingewöhnung auch unter optimalen Bedingungen erfordert eine hohe Anpassungsleistung vom Kind. Die Betreuung sollte aus diesem Grund zumindest in den ersten Wochen nur halbtags erfolgen.
Eine stabile Beziehung braucht Zeit
Jede überstürzte Eile am Betreuungs-Anfang wird sich rächen. Beide Seiten müssen sich Zeit nehmen, schließlich geht es nicht um einen Zahnarztbesuch, sondern um den Aufbau einer stabilen Beziehung zu Menschen, die für eine längere Zeit die Zweitfamilie des Kindes darstellen werden. Vorsichtig sollte man auch dann vorgehen, wenn am Anfang alles glatt zu gehen scheint: keine Tränen, keine Streits, das Kind spielt sofort. Kinder, die sich scheinbar schnell eingewöhnen, brechen häufig nach ein paar Wochen emotional sehr stark ein. Es ist, als ob sie dann erst gemerkt hätten, was eigentlich diejenigen Kinder durchgemacht haben, die sich anfänglich schwer tun.
Die Chemie muss stimmen
Für alle gilt jedoch: Stimmt die Chemie nicht zwischen Tageskind und Tagesmutter, fühlt das Kind sich nicht sicher in ihrer Nähe, oder lehnt die Tagesmutter das Kind aus irgendwelchen (vielleicht unbewussten) Gründen ab, dann sollte man die richtige Betreuungsphase erst gar nicht beginnen. Es kann viele Gründe haben, warum Tagesmutter und Kind nicht zueinander passen. Vielleicht sind die Temperamente zu unterschiedlich, der Rhythmus weicht zu sehr voneinander ab, das Aktivitätsniveau stimmt nicht überein oder Kind und Tagesmutter finden keine gemeinsame emotionale Sprache. Eine Tagesmutter, die durch ein quirliges Kind genervt ist, das stets auf der Suche nach neuen Spielideen ist, kann kaum über ihren Schatten springen, wenn sie es selbst lieber langsam angehen lässt. Wird eine solche Betreuungsbeziehung erzwungen, ist der kommende Betreuungsabbruch abzusehen – mit nun weit schlimmeren Folgen, da Kind und Tagesmutter bereits schon emotionale Blessuren davongetragen haben werden.
Rituale sind wichtig
Zu einer guten Eingewöhnung gehören auch feste Abschieds- und Wiedersehensrituale. Dem Kind muss über das Verhalten des bringenden Elternteils klar werden: Hier kann ich beruhigt zurückbleiben. Auch die Eltern müssen getrost Abschied nehmen, müssen ohne Angst loslassen können. Das klappt nur bei Vertrauen in die Tagesmutter und Zuversicht in deren pflegerische und erzieherische Qualitäten.
Ein Talisman von zu Hause, ein bestimmtes Halstuch oder Schmusetier erleichtern das Getrenntsein. Sich ohne Abschied davonzuschleichen sollte ebenso tabu sein wie endlos hinausgezogene Trennungsphasen, die Kind und Mutter verdeutlichen: „So richtig loslassen können wir uns ja nicht.“ Kinder, bei denen die Trennung von der Mutter lange dauert, zeigen auffällige Verhaltensänderungen, wenn die Eltern weg sind. Verringertes und unkonzentriertes Spiel, viel Selbstberührung zur Selbstberuhigung und gesteigertes Abseits-Verhalten sind zu beobachten.
Wenn das Kind nachmittags oder abends abgeholt wird, sollten Eltern pünktlich sein, um dem Kind Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit zu signalisieren, und eine halbe Stunde Zeitpuffer für danach einkalkulieren. Es kann ja sein, dass das Kind noch all die wichtigen Dinge, die es im Laufe des Tages gesehen und erlebt hat, den Eltern noch einmal vor Ort vor Augen führen will – eine beruhigende Phase, in der sich beide Welten treffen können. Schließlich lassen sich Erwachsene, wenn es ihnen bei ihrem Gastgeber gefallen hat, auch viel Zeit, um mehrfach die Hände zu schütteln, noch viele gute Ratschläge mit auf den Weg zu geben, doch noch einmal ein paar Schritte zurückzugehen, um erneut einen Dialog zu beginnen, manchmal vergeht eine Stunde oder mehr zwischen Ankündigung und Vollzug des Abschieds. Freuen Sie sich, wenn der Abschied schwer fällt, das ist ein gutes Zeichen, auch wenn es Eltern manchmal etwas weh tut.
Zu Hause bleibt alles beim Alten
Ganz wichtig, aber oft nicht von den Erwachsenen bedacht, ist eine Erfahrung, die Kinder erst langsam machen müssen: Daheim bleibt alles beim Alten, während ich außer Haus bin. So ist anfangs beim Nachhausekommen nicht selten ein kurzer Kontrollgang durch die Wohnung nötig, um festzustellen, dass in der Abwesenheit der Kinder nichts Wesentliches geschehen ist. Während der Eingewöhnungszeit sollte besonders darauf geachtet werden, nach Betreuungsende in aller Ruhe Zeit füreinander zu haben und auch Gelegenheit zum Spiel mit den „alten“ Freunden aus der Nachbarschaft oder dem Spielkreis zu geben. Alles Zeichen dafür, dass das Leben weiter geht, vielleicht sogar ein bisschen besser als vorher.
Quelle
Aus: ZeT – Zeitschrift für Tagesmütter und -väter 1999, Jg. 1, S. 8-10
Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch
- Warum die letzten Wochen in der Tagespflege von großer Bedeutung sind: Aller Abschied ist schwer
- Ein Forscher steckt in jedem Kind
- Wie lernt mein Kind, mit anderen Kindern zu spielen?
Autor
Dr. rer. nat. Joachim Bensel, Humanethologe, Mitinhaber der Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen (FVM). Forschungsprojekte zur Fremdbetreuung, zur Verhaltensentwicklung und chronischen Unruhe im Säuglingsalter und zu Ursachen von Gewalt und Destruktivität im Kindes- und Jugendalter. Seit 1993 Forschungen auf dem Gebiet des Säuglingsschreiens, Leiter der “Freiburger Säuglingsstudie” .
Kontakt
Dr. rer. nat. Joachim Bensel
Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen (FVM)
Obere Dorfstr. 7
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Tel.: 07626-970212
Erstellt am 27. August 2003, zuletzt geändert am 10. Januar 2012