Erziehungsberatungsstellen
Dagmar Winterhalter-Salvatore
Die Aufgaben der Erziehungsberatungsstellen sind in mehreren Vorschriften des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) geregelt (§§ 16 Abs. 2 Nr. 2, 17, 18 Abs. 3, 28 SGB VIII), wobei in §28 SGB VIII die Einrichtungen ausdrücklich als Anbieter genannt und Vorgaben an ihre Organisation und Arbeitsweise niedergelegt werden: “Erziehungsberatungsstellen und andere Beratungsdienste und -einrichtungen sollen Kinder, Jugendliche, Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Klärung und Bewältigung individueller und familienbezogener Probleme und der zugrundeliegenden Faktoren, bei der Lösung von Erziehungsfragen sowie bei Trennung und Scheidung unterstützen. Dabei sollen Fachkräfte verschiedener Fachrichtungen zusammenwirken, die mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen vertraut sind”.
Erziehungs- und Familienberatungsstellen helfen vor allem bei
- Fragen zur Entwicklung und Erziehung von Kindern,
- Erziehungsschwierigkeiten,
- Verhaltensauffälligkeiten,
- Entwicklungsverzögerungen,
- psychosomatischen Beschwerden,
- Formen der seelischen Behinderung bei Schulkindern,
- Eltern-Kind-Konflikten,
- Kindesmisshandlung,
- sexuellem Missbrauch,
- Einnässen,
- Ess- und Schlafstörungen sowie
- in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung sowie hinsichtlich der Ausübung des Umgangsrechts nichtsorgeberechtigter Elternteile.
In Erziehungsberatungsstellen arbeiten vor allem Psycholog/innen und Sozialpädagog/innen, aber auch Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut/innen, Heilpädagog/innen, Ärzt/innen und andere Fachkräfte. Sie verfügen in der Regel über besondere Zusatzausbildungen, z.B. in der Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie, Psychoanalyse, Spieltherapie oder Familientherapie. Manche haben sich für die Behandlung besonderer Zielgruppen (z.B. von Scheidungs-, Teil-, Stief- oder Pflegefamilien) weiterqualifiziert.
Erziehungsberatung erfolgt grundsätzlich freiwillig, d.h., dass Eltern sich in der Regel selbst anmelden und zur Mitarbeit bereit sein müssen. Für fast alle Beratungsleistungen besteht ein Rechtsanspruch. Auch ist Erziehungsberatung kostenfrei. Die Berater/innen unterliegen der Schweigepflicht, d.h., was in den Gesprächen mitgeteilt wird, wird vertraulich behandelt. Nur so kann eine vertrauensvolle Beziehung zu den Klient/innen entstehen, in der sehr persönliche Fragen und Probleme geklärt werden können. Nur mit schriftlicher Einwilligung der Eltern dürfen Gesprächsinhalte z.B. an den Kindergarten oder das Jugendamt weitergegeben werden.
Zum Erstgespräch werden in der Regel beide Eltern und ihr Kind oder die ganze Familie eingeladen. Die Berater/innen sprechen mit ihnen über die jeweiligen Probleme und eventuell schon über deren Ursachen. Dann folgen Anamnese und Diagnose, wobei manchmal Testverfahren und andere psychologische Untersuchungsmethoden eingesetzt werden. Je nach der Problematik folgt eine mehr oder minder lange Beratung bzw. Behandlung, die beispielsweise
- Einzelgespräche,
- Familienberatung,
- psychotherapeutische, heilpädagogische und ähnliche Maßnahmen für das Kind,
- Krisenintervention,
- Gruppen für Eltern oder
- Gruppen für Kinder
umfassen kann. Die Arbeitsansatz der Berater/innen ist familienorientiert und ganzheitlich.
Daneben beraten Erziehungsberater/innen pädagogische Fachkräfte wie Erzieher/innen und Lehrer/innen (inkl. Fallbesprechungen) und bieten oft Supervision an. Sie führen Informationsveranstaltungen zu Erziehungsfragen durch bzw. nehmen als Referent/innen oder Gesprächspartner an Elternabenden in Bildungseinrichtungen teil.
Das folgende Fallbeispiel vermittelt einen Eindruck von der Arbeit einer Erziehungsberatungsstelle.
Im Kindergarten pengt’s, boingt’s und kracht’s … oder können unsere Kinder nicht mehr sprechen?
Steffi ist 5,3 Jahre alt und besucht seit ungefähr einem Jahr den Kindergarten. Sie ist ein sportlich aktives Mädchen – kein Klettergerüst ist ihr zu hoch. Sie hat viele Freunde im Kindergarten und spielt mit Vorliebe mit den Jungen Fußball oder andere bewegungsorientierte Spiele. Auffallend ist die Spracharmut des Kindes. Bei Erzählungen oder Nachbesprechungen von Bilderbüchern ist ihr Wortschatz sehr eingeschränkt; sie versucht, dies durch gestenreiche Gebärden und verschiedene Laute auszugleichen. Der Erzieherin fällt auf, dass Steffi viel aus Fernsehsendungen erzählt, in denen es “pengt”, “boingt” und “kracht”. In der Kleingruppe der Vorschulkinder wirkt sie oft unkonzentriert und weigert sich, aufgabenbezogen zu arbeiten.
Da die Einschulung bevorsteht, wird ein Gespräch mit den Eltern vereinbart. Dort erfährt die Erzieherin von der gestresst wirkenden Mutter, die zuweilen mit ihren fünf Kindern überfordert ist, dass der ältere Bruder von Steffi wegen Sprachproblemen in die Diagnose- und Förderklasse gehe. Die Mutter berichtet, dass sie oft “keinen Nerv habe”, sich um die “großen” Kinder zu kümmern und sie einfach vor den Videorecorder setze. Der Haushalt, die Kinder und ihre Heimarbeit würden ihr einfach zu viel werden. Nach einiger Überzeugungsarbeit erklärt sich die Mutter bereit, einen Termin mit der Erziehungsberatungsstelle zu vereinbaren.
Frau X. und Steffi besuchen die Erziehungsberatungsstelle. Nach mehreren Sitzungen kristallisieren sich zwei Problembereiche heraus: Erstens braucht das Mädchen dringend Unterstützung in ihrer Sprach- und geistigen Entwicklung. Zweitens muss die Mutter in ihrem überfordernden Alltag entlastet werden.
Steffi nimmt nun wöchentlich an einer Spielgruppe in der Beratungsstelle teil. Fünf Kinder mit Problemen in ihrer intellektuellen Entwicklung besuchen diese von einer Heilpädagogin mit Zusatzausbildung in Autogenem Training geleitete Gruppe. In Verbindung mit Märchenmotiven werden Entspannungsübungen durchgeführt, die die Fantasie der Kinder fördern und Konzentrationsschwächen zu überwinden helfen. Durch das Autogene Training finden die Kinder zur inneren Ruhe und entwickeln neue Energie, Lerninhalte konzentriert aufzunehmen. Außerdem fördern die Märchen durch ihre klare Sprache und Aussage die Erweiterung des Wortschatzes. Sie ermöglichen es, Gefühle zu verbalisieren und Handlungen logisch in der Nacherzählung wiederzugeben. Die in Märchen typischen Wiederholungen erleichtern den Sprachaufbau.
Ferner werden den Kindern in dieser Spielgruppe vielfältige Angebote zur Spracherweiterung gemacht – z.B. durch Bilderbücher, die Kommentierung von Scharaden, Mimenspiele und Bildgeschichten. Methoden der psychomotorischen Wahrnehmungsförderung (z.B. ein Kind erklärt dem Partner ein vor ihm liegendes Bild, das dieser nachzuzeichnen hat) unterstützen die Kinder in ihrer Entwicklung.
Aber auch die Mutter erfährt Hilfe: In mehreren Einzelgesprächen mit der Psychologin der Beratungsstelle wird deutlich, dass die Frau mit ihren vielfältigen Aufgabenbereichen und Verantwortlichkeiten allein gelassen und damit überfordert ist. In erster Linie geht es darum, ihr praktische Hilfestellungen zur Bewältigung ihrer häuslichen Verpflichtungen zu geben. Hierzu wird unter Einschaltung des Jugendamtes Kontakt mit dem Verein “Nachbarschaftshilfe e.V.” aufgenommen. Er bietet u.a. Hilfen im Alltag wie Haushalts-, Einkaufs- und Reinigungshilfe sowie Kinderbetreuung an. Zweimal die Woche erhält nun Frau X. Unterstützung bei der Erledigung ihres Haushaltes, wobei die Kosten vom Jugendamt bezuschusst werden.
Zusätzlich wandte sich die Erzieherin an das nahe liegende Mütterzentrum. Es bietet Müttern Möglichkeiten zum Gesprächs- und Erfahrungsaustausch, Babysittervermittlung, gemeinsame Theater- oder Kinobesuche, verschiedenartige Kursangebote, Kreativgruppen u.v.a.m. In dem Mütterzentrum erhalten die Frauen für bestimmte Leistungen ein Honorar. Im Fall von Frau X. bedeutet dies, dass sie ihre ineffektive Heimarbeit aufgeben und dafür gegen Bezahlung bei der Zubereitung des Mittagstisches für Schulkinder helfen kann, an dem auch ihr großer Sohn teilnimmt.
Weitere Informationen
Adressen von Erziehungsberatungsstellen, bke-Sorgenchat, E-Mail-Beratung und Informationen für Ratsuchende finden Sie auf der Website der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung
Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch
- Allgemeiner Sozialdienst
- Schulvorbereitende Einrichtungen
- Heilpädagogische Tagesstätten
- Sozialpädiatrische Zentren
- Logopäd/innen und Sprachheilpädagog/innen
- Physiotherapeut/innen, Ergotherapeutin/innen und Motopäd/innen
Autorin
Dagmar Winterhalter-Salvatore ist am Staatsinstitut für Frühpädagogik als Heilpädagogin angestellt.
Erstellt am 31. Mai 2001, zuletzt geändert am 19. Juli 2013